Radikal ICH. (1)
Das Lebensgefühl vieler (besonders junger) Leute wird seit einigen Jahren von einem radikalen Individualismus bestimmt. Man könnte ihn mit dem Schlagwort „Radikal ICH“ beschreiben. Seit ca. 15 – 20 Jahren hat diese Lebens-Philosophie zumindest in den wohlhabenden westlichen Ländern der Erde massiv an Fahrt aufgenommen.
Was steckt hinter dieser Radikal-ICH- Lebens-Programmatik und wie zeigt sie sich?
Kern des Radikal-Ich-Lebensentwurfes ist der Anspruch und die Sehnsucht eine ganz eigene, einmalige Lebensgeschichte zu entwerfen und zu leben. Schließlich hat man nur dieses eine und einmalige Leben. Grund genug, es nach einem ganz individuellen Entwurf zu gestalten.
Unabdingbare Grundvoraussetzung der Radikal-ICH-Philosophie ist Freiheit: Freiheit von einengenden Konventionen, Moral, überkommenen Anschauungen und Traditionen. Kein Wunder, dass Kirche und Religion in der Radikal-ICH-Philosophie keinen Platz haben. Sie stehen mit ihren Inhalten für Bevormundung, Repression, Einengung und damit für Unfreiheit.
Die Radikal-ICH-Philosophie will eine ganz eigene Lebensgeschichte entwerfen und umsetzen. Sie will das eigenständig und autonom tun. Das heißt: Die Radikal-ICH-Lebensphilosophie sitzt im übertragenen Sinn vor einem weißen Blatt Papier und entwirft eine Lebensgeschichte, in der sich das Ich vollkommen entfalten und verwirklichen, also authentisch leben kann. Was dabei vor allem zählt, ist das Hier und Jetzt, nicht eine unbekannte Zukunft. Mit einem Schuss Mitleid sieht die Radikal-ICH-Philosophie auf vergangene Generationen, die sich von Moral, Religion und längst überholten Traditionen gängeln und einengen ließen.
Der Radikal-ICH-Lebensentwurf emanzipiert sich nach Möglichkeit von allem, was das wahre Ich einschränken und behindern könnte. Das bedeutet: Das Ich kann und wird im Laufe der Zeit seine Geschichte immer wieder fortschreiben, verändern und weiterentwickeln. Lebensstil und Lebensziele werden dabei immer wieder eine radikalen Überprüfung und Revision unterzogen. Dabei geht es darum, das wahre Ich im Hier und Jetzt möglichst authentisch zu leben.
Wie sieht das konkret aus?
Beziehungen werden grundsätzlich offen gestaltet. Wenn sie der eigenen Geschichte und der Entwicklung des wahren Ich hinderlich sind, können sie aufgegeben werden. Eine auf Dauer angelegte Beziehung, wie sie die Ehe darstellt, ist eher keine Option, da sie auf keinen Fall ohne ernste Einschränkungen und Kompromisse auskommt. Beziehungen werden als Beziehungen auf Zeit gelebt.
Was Werte und Moralvorstellungen angeht, sind auch sie der selbst entworfenen Lebensgeschichte unterworfen. Solange sie die eigene Lebensgeschichte stützen und voranbringen, sind sie willkommen. Wenn sie das authentische Leben des Ich aber behindern, können sie keinen Bestand haben.
Die für das Leben notwendige materielle Basis, die durch Arbeit im Beruf gesichert werden muss, stellt ein Problem dar. Arbeit im Beruf bringt notwendigerweise Zwänge und Einschränkungen mit sich. Der Zwang, Geld verdienen und sich den Regeln des Arbeitsmarktes unterwerfen zu müssen, steht dem Radikal-ICH-Lebensentwurf entgegen. Man nimmt darum die Zwänge, die das Berufsleben mit sich bringt, als (leider) notwendiges Übel in Kauf, achtet aber darauf, das Maß an Unfreiheit möglichst gering zu halten und die Work-Life-Balance möglichst weit zugunsten des „life“ zu verschieben.
Ein wichtiges Thema der Radikal-ICH-Philosophie ist die Sexualität. Man definiert sich auch auf diesem Gebiet immer wieder neu. Aus einer hetero-sexuellen Geschlechtlichkeit kann eine bi- bzw. homosexuelle und umgekehrt werden. Man folgt auch hier dem Antrieb des Ich.
Das bedeutet: Lebensstil und Lebensentwürfe sind potentiell einem ständigen Wandel unterworfen. Es gibt keine Konstanten, die wirklich konstant sind. Für das Individuum bedeutet das natürlich einen erhöhten Stress. Schließlich muss es sich in seinem Leben immer wieder neu entwerfen und von vorn anfangen, wenn es sein Ich authentisch ausleben will.
(Fortsetzung folgt)